In der Nacht immer wieder Möwengeschrei. Prinzessinnenmöwe auf der Erbse. Möglicherweise war etwas unbequem beim Nächtigen. Am Morgen aufs Neue Gezeter – es sind zwei. Vielleicht hat das Paar auf dem Dach Streit. Vielleicht will sie jetzt doch Kinder. Ich bleibe noch eine Weile liegen, döse, lasse die Geräusche an mich herankommen, sich entfernen, andauerndes Thema: Meeresrauschen.
Heute möchte ich eine Suppe kochen. Mein rechtes Ohr stach beim Aufwachen leise. Die blöde Nebenhöhlensache plagt mich immer noch. Ich stelle mir vor, eine Rindersuppe könnte Heilkräfte freisetzen. Es gibt Leute, die schwören drauf. Gegen Mittag gehe ich mit Maryem auf den Markt.
Am Gemüsestand. Kaum hat Maryem Berge an Gemüse eingekauft – meine erstandenen Mengen sind (für mich allein) vergleichsweise winzig – taucht aus dem Nichts ein älterer Mann auf. Ich wage es nicht, ihn zu fragen, ob ich ihn fotografieren darf, dennoch kann ich den Blick kaum von ihm wenden. Ich vermute, er würde sich schämen, wenn ich ihn fragte. Es ist nicht zu übersehen, dass er arm ist, extrem arm. Das ausgeblichene Jacket am Kragen fadenscheinig, der Armsaum Webskelett. Einer der Ärmel ist an der Schulter gründlich mit großen festen Stichen in einer helleren Farbe angenäht. Die extreme Sorgfalt, die er trotz seiner Armut in die Instandhaltung seiner Garderobe gesteckt hat, zeigt, so absurd das klingen mag, beeindruckendes Stilgefühl. Unter dem Jacket ein am Kragen ausgefranstes Hemd, kunstfertig geflickt, darüber der Gurt einer kleinen, uralten Ledertasche, die sich an den schmalen Körper schmiegt, als hinge sie dort ein Leben lang schon. Die Hose, unten aufgestoßen, aber auch hier vielfach umsäumt und ordentlich, in kontrastierender Farbe, gestopft. Er greift den Berg an Tüten vom Stand, es werden ein paar Sätze gewechselt, er wird unseren Einkauf für ein paar Dihram mit dem Handkarren zu uns nach Hause bringen. Wir haben die Hände frei. Was für ein Service!
Maryem kauft ein Huhn. Wir stehen vor dem Schlachterstand und ich sehe wie es genau abläuft.
Der Verschlag in dem die beiden jungen Männer stehen ist weiß gekachelt. Auf der einen Seite der Verkaufstresen, auf dem die Tiere zerlegt und verkauft werden, auf der anderen Hühner auf drei Etagen. Ganz unten frei laufende, es gibt einen Futterständer, randvoll mit Körnern, Henkersmahlzeit. Darüber ein Käfig mit etwas beleibteren Hühnern, ganz oben ein weiterer, in dem nur ein Huhn unaufgeregt hin und herläuft, es ist das dickste, wahrscheinlich auch das teuerste und hat vermutlich noch ein bisschen Lebenszeit. Maryem entscheidet sich für ein Tier von unten. Es wird aus der Menge am Hals gepackt, auf eine Waage gedrückt, zack, mit dem Messer die Halsschlagader durchtrennt, Blut rinnt träge auf weißes Gefieder, kein Laut, kein Schrei, es wird kopfüber in eine Art Trichter gesteckt. Groteskes Bild: sechs Trichter nebeneinander, in jedem steckt ein Federvieh, sichtbar nur die kralligen Füße, die zucken, zum letzten Mal. Wahrscheinlich sind die Tiere nicht blöd. Beten anstatt zu schreien. Halten bis zur Besinnungslosigkeit die Luft an.
Wenn die Füße nicht mehr zucken, verschwindet das Huhn hinter der Verkaufstresen-Ecke, es wird ihm ein Eimer Wasser über den Leib gekippt. Wahrscheinlich heißes. Kurz darauf liegt es, entfedert, auf dem schwarzen Plastikblock. Es wird zerlegt, als könne man es später ebenso zusammensetzen.
Das Rind, von dem mein Suppenfleisch stammt, habe ich weder sterben noch im Ganzen tot oder lebendig gesehen, wahrscheinlich wäre das eine andere Angelegenheit. Kann nicht beschwören, dass es Suppe gäbe.