Im Zug
Dass Zugreisende ihre Wut im Umfeld der Bahn abbauen ist nichts Neues. Dass ich inzwischen jedes Mal unmittelbar betroffen bin, macht mich stutzig und lässt ahnen, dass dieser Ort das Zeug hat, Kampfplatz der Nation zu werden. Ich hätte einen neuen Kampagnenansatz: Frustration im Alltag? Machen Sie eine Bahnfahrt!
Die ist zwar längst nicht mehr lustig und weit entfernt von schön, hilft aber aufgestaute Aggressionen abzubauen. Da die Züge mittlerweile planmäßiger unterwegs sind, Heizungsausfall oder Überhitzung eher selten vorkommen und auch das Personal geschult mit Wutbürgern umzugehen weiß, attackieren Reisende nun Mitreisende.
Auf keiner meiner letzten Bahnfahrten bin ich nicht angeblafft, beschimpft oder aggressiv angegangen worden. Heute, ich sitze noch gar nicht, bereits drei Mal. Erstens, weil mein Koffer gegen den Sitz einer älteren Dame gestoßen ist, die die Augen kurz zuvor geschlossen hatte. Ob das unbedingt nötig sei, ob ich nicht aufpassen könne, wie rücksichtslos, es sei doch offensichtlich, dass sie schlafe! Etwas eingeschüchtert stand ich kurz darauf vor meinem Platz und überlegte, wie ich den schweren Koffer aus dem Weg schaffen konnte, ohne mir dabei den nächsten Rüffel und womöglich einen Bandscheibenvorfall einzuhandeln.
Ich sah einen breiten, kräftigen Männerrücken vor mir, fasste Mut und tippte ihm vorsichtig auf die Schulter: Ob er vielleicht so freundlich sein könne, mir den Koffer in die Ablage zu heben? Ihm gegenüber saß eine Frau, die ihn gefährlich fixierte, er drehte sich noch nicht einmal zu mir um, vermutlich hatte ihr furchtbarer Blick ihn an den Sitz genagelt. Ein Wunder, dass er noch atmete. Ohne ihn aus den Augen zu lassen antwortete sie, ich solle den Koffer gefälligst alleine hochheben und ihren Sohn in Ruhe lassen, er könne keine schweren Gepäckstücke fremder Leute hochheben, er habe einen kaputten Rücken! Hu! Ich fürchtete mich wirklich. Glücklicherweise war ich nicht allein im Abteil. Alle glotzten. Auch andere breitschultrige starke Männer. Eine zarte junge Frau mit Nickelbrille jedoch stand kopfschüttelnd auf und griff mit Blick auf die Medusenmutter beherzt nach dem mit Büchern vollgestopften Rimowa, der sich aber keinen Millimeter bewegen wollte. Gemeinsam, mit Hilfe einer älteren Dame, die voller Mitleid meinen Arm streichelte, bevor sie einen Griff anpackte, landete der Koffer dann eine ganze Weile später oben im Gepäckfach. Danke, danke, danke! Dann saß ich.
Allerdings nur kurze Zeit. Ich spürte, wie jemand hinter mir am Sitz zog. ‚Ihr Koffer liegt nicht gerade in der Ablage!‘ – Ich drehte mich um. Die Frau war ungefähr in meinem Alter. ‚Da liegt noch irgendwas dahinter. Ich habe keine Lust, ihn bei der nächsten Bremsung auf den Kopf zu bekommen! Machen sie das doch mal richtig! Das ist ja lebensgefährlich‘ Sie hatte Recht, meine Yogamatte klemmte dort zwischen Gepäck und Wand und der Koffer stand ein wenig über. Ich bin der Meinung, sie hätte es, nach all den Attacken auf mich, denen sie beiwohnen durfte, eine Spur freundlicher sagen können.
Aber auch das ein Klassiker: Wird einer getreten, treten andere nach (die schlichten, die ohne Zivilisations-Empathie-Gen), nur, weil es im Rudel einfach noch mehr Spaß macht. Etwas sensibler ausgestattet, hätte ich die Bahnfahrt heulend begonnen.