15/01/16 Kofferraum oder Gartenzaun?

Letzten Samstag. Ich kaufe ein. Im Supermarkt lümmelt im Kassenbereich ein etwa siebenjähriger blond gelockter Knabe neben der Mutter herum und singt ‚O Tannenbaum usw., die Oma hängt am Gartenzaun …’. Er sing es wieder und wieder, immer diese beiden Zeilen, praktisch hängen geblieben, man kennt das von Melodien, Texten, die sich in die Tages-CD-gebrannt haben. Der Junge grinst dauerhaft den Kassierer an, der freundlich schaut, aber nichts sagt, womöglich hört er gar nicht zu. Die Mutter, so in meinem Alter, räumt ihre Einkäufe in die mitgebrachten Taschen, sie lächelt stolz ihrem kleinen Bengel zu. Ha, singen kann das Kind … Ob sie den Text gut findet? Ob sie ihn überhaupt hört?
Vor dem Zeitschriftenregal kniet ein anderer, etwa gleichaltriger Junge, der korrigierend: ‚sitzt im Kofferraum,’ dazwischensingt und unsicher in die Warteschlangengesichter über sich schaut. Scheint zu spüren, dass da etwas an seinem Gesang nicht ganz korrekt ist, das Kind. Der Vater blättert abwesend in einer Zeitschrift. Ich schaue den Jungen an. Lächeln gibts nicht. Ich möchte ihn verunsichern, es könnte ihn zum Denken anregen. Dieses ‚Odaskindsingt‘-Gegrinse der Umstehenden provoziert meinen Wunsch nach Fremderziehung im Schnellverfahren. Beim Bezahlen kommt mir die Frage: Bin ich intolerant? Womöglich zu alt für diese Art Humor?
Ich erinnere mich auf dem Nachhauseweg dunkel an eine im Hühnerstall motorradfahrende Rentnerin aus meiner Kindheit, über die wir damals gesungen haben, doch die war eine moderne Frau und das war, trotz Amusement, ziemlich abgefahren. Die Hühnerstall-Oma wurde nicht diffamiert, sie war cool. Über Omas, die an Gartenzäunen hängen oder in Kofferräumen sitzen zu singen, finde ich irgendwie respektlos und verachtend. Der Schritt von der einen zur anderen scheint auf den ersten Blick klein, ist aber immens. Es ist die innere Haltung, das Gefühl, die Menschlichkeit.
Um schnell nach Hause zu kommen, gehe ich an unbeampelter Stelle über die Straße. In sicherer Entfernung ein PKW. Der PKW-Fahrer handelt überraschend. Anstatt die Geschwindigkeit beizubehalten oder zu drosseln (ich würde diesen Gedankengang annehmen: Mensch = langsam fahren), beschleunigt er so, dass ich rennen muss. Platz da, meine Straße! Das Auto als Waffe. Ich muss rennen, um sicher auf die andere Straßenseite zu gelangen! Und noch während ich renne verstehe ich: Es ist folgerichtig, dass kleine Kinder Omas im Kofferraum oder am Gartenzaun entsorgen, wenn Erwachsene Menschen zu überfahren drohen, die an falscher Stelle die Straße überqueren.
Ich glaube nicht, dass früher alles besser war (auch die Lied-Texte nicht unbedingt). Menschen sind Menschen. Ich glaube aber, dass es wichtig ist, Achtung zu haben und damit zu lehren, Achtung vor dem Menschen. Immer und überall.
Und einen Wunsch habe ich: Helft mir, wenn ich überm Gartenzaun hänge – oder im Kofferraum sitzen muss. Bitte.

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2 Gedanken zu „15/01/16 Kofferraum oder Gartenzaun?&8220;

  1. Schön auf den Punkt gebracht und keine Sorge, ich helfe dir immer wieder gerne vom Zaun (schönes Bild auch – wo ist das denn her?). Allerdings glaube ich, dass du dank gewisser Nachbarn, Kindersingen im Allgemeinen etwas kritisch gegenüberstehst. But, I don’t blame you!

    1. Danke! Das nenne ich einen Beitrag zu ‚… wieder angstfrei einkaufen!‘
      Die ältere Dame sitzt schon seit einiger Zeit auf dem Dach vom Thalia in der Gaußstrasse.

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