19.01.2015 Essaouiras anderes Gesicht

Haus

Der Regen hat aufgehört. Noch einmal kurz, während wir mit geliehenen Rädern aus der Stadtmauer in Richtung Norden fahren, geht ein kleiner Schauer nieder, der der Stadt wenig später, im gleißenden Sonnenlicht, einen dunstig goldenen Nebel beschert, eine Gloriole, als sei sie der Hauptdarsteller in einem Bollywoodfilm.

Wir suchen einen Zugang zum Strand von Norden her. Bisher sind wir nur vom Hafen aus zu den Felsen unterhalb der Stadtmauer gelangt und irgendwo auf Höhe von ‚le Bastion’ kam man nicht mehr weiter. Doch außerhalb der Medina, auf Google Maps ist es sichtbar, gehen die Felsen weiter, ein Strand schließt sich an und irgendwo zwischen den Häusern der Neustadt müssen Durchgänge zum Meer sein. Wir fahren am Lima-Bus-Parkplatz gegenüber dem christlichen Friedhof vorbei, dort wo in langen Schlangen Taxen und Busse parken, die nach Marrakech und Agadir fahren. Ankommende und abfahrende Reisende versperren den Weg, Handkarrenfahrer rennen über die Fahrbahn, Droschken dazwischen, Motorroller, Pott- und Gebäckverkäufer. Man muss ein wenig auf seinen Weg achten, ausweichen, nachgeben, Regeln brechen, und weil es alle machen, ist das der sicherste Weg hindurchzukommen. Wir passieren unzählige Vorortwerkstätten, dunkle Löcher, in denen gearbeitet wird, Hammerschläge auf Metall, Schweißgeräte, kleine Flammen in der Dunkelheit der tiefen Räume, beißende Geruchsmischung von Kohlefeuer, Abwasser und Autolack.

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Es wird geraucht, Tee getrunken, ohne Eile, Karosserien und Schrott türmen sich auf dem Gehsteig, Autos stehen reifenlos auf Steine gebockt am Straßenrand, Gerbereien haben gespannte Häute neben der Fahrbahn zum Trocknen aufgestellt, blaue Droschkentaxen parken am Kantstein über viele Meter, die Köpfe der schmalen Pferde verborgen in Hafersäcken, die ihnen um den Hals gehängt wurden. Unweit davon ein Rappe, frei, ohne Zaumzeug, ohne Herr, ohne irgendetwas, läuft leichten, federnden Schritts die Straße entlang, die lange dunkle Mähne weht wie kostbares Tuch im Wind. Apokalyptisches Szenario. Keiner dreht sich nach ihm um. Nur wir halten und starren. Es ist wie in einem Traum.

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Die Gebäude werden größer, verfallener, die Straßen erdiger. Eine gespenstische Kulisse hohläugiger Fabrikruinen, zugenagelter Tore und Fenster umgeben von Schuttbergen, Autowracks und Müll – dann hören wir das Meer und sehen durch eine aufgebrochene Wand in das ehemalige Innere einer Arbeitshalle. Dort steht ein kleiner grüner Baum vor aufgerissenem Mauerwerk und über seine Äste hängen, als habe jemand sie kunstvoll dort drapiert, weiße Plastiktütengirlanden, unheimlich und poetisch zugleich.

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Dahinter, durch einen großen steinernen Rahmen, einen alten Tür- vielleicht Fenstersturz, sehen wir helle Wellen sich vor tiefem Blau türmen, das Meer. Einige hundert Meter zurück in der Medina hat man aus einem der Luxuszimmer des Riad Madida eine ähnliche Aussicht.

Inmitten dieser menschenverlassenen Gegend öffnet sich plötzlich eine gigantische blaue Schiebetür in einer Wand und hinter einem Stapel Paletten treten zwei Männer und eine Frau auf den von Schlaglöchern durchsetzen, lehmigen Weg. Durch die geöffnete Tür sehen wir Mengen an gestapelten CocaCola Kisten, die Tür schließt sich. Wir grüßen und fragen, was für eine Art Gebäude die Ruine mit Meerblick gegenüber früher war.

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Eine Sardinenfabrik sagen sie. All die verfallenen großen Gebäude, die wir ringsum gesehen haben waren früher Sardinenfabriken. Eine ist geblieben. Eine einzige. Aber auch die arbeitet nur noch 5 Monate im Jahr. In dieser Zeit gibt es genügend Fang. Ansonsten ist das Meer an Fischen leer. Marokko hat einen großen Teil der Fischereirechte an Europa und Russland verkauft, für sie selbst reicht es schon lange nicht mehr. Fabriken mussten schließen, die Menschen haben ihre Arbeit verloren.

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Wir fragen wie hoch sie die Arbeitslosenquote hier in Essaouira schätzen. Sechzig bis siebzig Prozent sagen sie und wirken schüchtern, keine Spur von Wut. Welcher Wirtschaftssektor denn in Marokko gut laufen würde, wollen wir wissen. Die Landwirtschaft – sie lächeln – der Tourismus auch. Aber der König, beteuern sie mehrfach, sei gut, der König und der Präsident, der auch, nur was darunter käme, die seien alle unfähig!

Wir fahren an mehreren Märkten vorbei, die an den Souk in Had Dra erinnern. Niedrige, durch Planen bedachte Stände, gefüllt mit Ware der Bauern aus der Umgebung. Wir essen in einer Garküche zwischen Abgasrauch und Grillnebel am Straßenrand ‚Brochettes’ ungeklärter Herkunft, während aus dem offenen Hinterraum eine Babystimme schier unerträglich schreit. Beim Aufstehen sehen wir, es war eine Ziege. Vermutlich ahnte sie, dass bald geschlachtet wird.

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Bisher habe ich die meiste Zeit in meiner ruhigen Parallelwelt auf dem Dach des Hauses verbracht. Wenn ich die Stadt betrat, war ich bei ‚meinem’ Schlachter, Gemüseverkäufer, Lebensmittelladen, habe ‚meinen’ Bettlern Münzen in die Hand gelegt und mich bei jedem über das erkennende Lächeln gefreut, das ich geschenkt bekam. Zwar bin ich häufig wechselnde Wege gegangen, aber kennen tue ich die Stadt deshalb noch lange nicht. Essaouira ist mehr als nur die Medina, die mir jetzt, angesichts dieser weitläufigen, sehr armen Viertel, wie ein Märchenwunderland aus einem alten Buch erscheint, vielleicht auch eine Art Mikrokosmos für Touristen. Selbst die Bettler in den dunklen Gassen der Altstadt wirken beschämend schön, gegen die blanke Armut, die mir draußen vor dem Tor begegnet ist, die vielen Menschen, die ich in den Mülltonnen der bereits Armen nach Essbarem habe suchen sehen.

Dort wo ich heute war, findet das wahre Leben statt. Ich glaube nicht, dass ich heute Nacht so ruhig schlafen werde, wie die Nächte davor.

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