Marokko Reiseblog – Teil 2 – Essaouira

Halb Marokko, scheint mir, will nach Essaouira. Eine Riesentraube – Touristen aller Nationalität und Marokkaner – steht um den Supratours-Bus. Bevor einer von uns Normalreisenden den Eingang betreten darf, hilft der Fahrer unter ehrerbietigen Verneigungen einem alten grauhaarigen Mann in beige-gestreifter Djellabah einzusteigen. Sein kurz geschnittenes Haar ist bedeckt von einer weißen, gehäkelten Kappe, er bewegt sich langsam, unterstützt vom Arm des Fahrers und einem Gehstock und wird irgendwo ganz hinten im Fahrzeug platziert. Ist dort der beste Platz? Für den alten Herrn womöglich.

Für mich wäre er ganz vorn in der ersten Reihe, direkt hinter dem Fahrer. Ich könnte, wenn ich am Fenster säße, durch die große Frontscheibe und zu beiden Seiten hinaussehen. Da ist noch ein Sitz frei, ich kann es von außen sehen! Zum Gang hin sitzt jedoch bereits ein bedauernswerter Gustav von Aschenbach-Verschnitt, der seine, eine Nuance zu dunkel gefärbte und mehr als eine Nuance zu lange, fisselige Haarpracht so von einer Seite zur anderen über das lichte Haupt gekämmt hat, dass einem die Tränen kommen. Ob drei Stunden neben ihm spurlos an einem vorüber gehen? Eine perfekte Aussicht ist nicht alles, mes amis…

Ich steige als eine der letzten ein (Grund: der Dieletztenwerdendieerstensein-Trick mit dem Koffer, den man beim Aussteigen als erster wieder zurückbekommt. Ja, das ist vergleichbar mit dem Mallorca-Handtuch-Trick, schadet aber niemandem. Hier auf dem Foto kann man wunderbar sehen, wie weit vorne mein Koffer gelandet ist – die Ladehilfe stützt sich gerade darauf ab), verzichte aber auf den eins-a-Platz und setze mich auf einen von zwei unbesetzten Sitzen in der vierten Reihe. Kurzzeitig kommt mir die Frage, warum diese beiden noch frei sind, während der restliche Bus proppevoll scheint. Stimmt mit ihnen etwa auch etwas nicht? Vielleicht sieht man nichts? Vor dem Fenster ragt irgendetwas in die Aussicht. In diesem Moment geht die Klappe vom Gepäckraum nach unten, bis dahin hatte sie das Fenster halb verdeckt. Das konnte es also nicht gewesen sein. Wenig später stehen zwei Engländer vor mir und beanspruchen meinen Platz. Sie zeigen auf ihre Tickets, ihre Sitz-Nummern stünden dort. Wenn ich eine Karte hätte, könnte ich sehen wo ich sitze … Ich erhebe mich unwillig – stehe im Gang rum und suche meine Karte. Mist. Ich dachte, einmal drin, brauche ich sie nicht mehr. Ich muss die komplette Tasche ausleeren, hastig, ich ahne bereits: meinetwegen kommen wir zu spät los. Der Busfahrer wird ungeduldig. Da, endlich, hatte sie in der Hosentasche deponiert. Vous êtes le numéro 1! Sagt der Fahrer nachdem er kurz auf das Ticket gesehen hat und wirft mir einen aufmunternden Blick zu. Es ist der Platz neben Gustav von Aschenbach!

Wir verlassen Marrakech. Nach den wohl in allen Städten dieser Welt in den Randbezirken üblichen Autowerkstattflachbauvierteln, kommen wir durch ein Villenviertel, wo dunkelhäutige Hausangestellte weiße Schürzen tragen und wolkenähnliche Plumeaus lasziv über massiven Steinbrüstungen hängen. Golfcaddyähnliche Rasenmäher gleiten über perfektes Grün und tatsächlich sehe ich auf der Straße Menschen Hunde an Leinen Gassi führen. In Marrakech-Town, dort wo die Moslems Hunde* als unrein erachten, undenkbar. Ohne Vorwarnung folgt: Achtung, neues Szenario: eine Art Riesenneubauviertel, rötliche Architektur-Klone in identisch angelegten Gartenanlagen, dann, eine erschlossene Fläche ohne Häuser, bereit für die nächsten Bausünden, gefolgt von Steinbergen und Brachland. Kurz darauf gleiten Oliven- und Orangenhaine vorüber, die Olivenbäume werden kleiner, immer kleiner, als schrumpften sie unter meinem Blick, bald verschwinden auch sie, es wird karg und steinig, irgendwann hügelig. Der drei Wochen währende Regen vor meiner Ankunft hat Spuren hinterlassen, große Einschnitte in den trockenen Boden gezogen, manchernorts noch voller Wasser. Aber am schönsten ist das Grün. Je mehr wir uns der Küste nähern, desto üppiger. In den Bergen war es noch ein zarter, vielversprechender Flaum, vor den Toren von Essaouira ist es bereits saftiges Weideland.

Und jetzt, oben, von der letzten Kuppe aus, sehe ich durch die Panoramascheibe das Meer. Ich bin da.

Am 12.12.2014, mitten im Advent in Marokko. Advent – bedeutet Advent nicht Ankunft?

Und dies, liebe Freunde, ist ‚meine Aussicht‘ für die nächsten Wochen, die Dachterrasse vom Gästehaus ‚Le Bastion‘.